Der französische Soziologe und Ethnograph Marcel Mauss hat 1925 einen Essay über Form und Funktion des Gabenaustausches in archaischen Gesellschaften publiziert, der bis zum heutigen Tag nichts von seiner Anregungskraft eingebüßt hat [1]. Mauss Abhandlung beruhte auf dem Studium der Indianerstämme und Eskimos in Nordamerika sowie rezenter Kulturen der pazifischen Inselwelt, bezog aber auch vergleichend die Rechts- und Wirtschaftsordnungen im antiken Rom, in Indien und bei den Germanen ein. Grundlegend für Mauss wurde die Einsicht, daß die Geschenke in den genannten und vielen anderen Kulturen zwar der Form nach freiwillig gegeben wurden, tatsächlich jedoch obligatorisch waren [2]. Der Pflicht zur Gabe war nicht bloß der Schenker unterworfen, sondern sie band ebenso den Adressaten, der die Gabe nicht zurückweisen durfte und selbst erwidern mußte. Dieses System des Gabentausches beruhte auf der Vorstellung, daß mit der Sache die Seele des Schenkers selbst gegeben wurde. Ursprünglich haben freilich nicht Individuen, sondern Kollektive - Clans, Stämme oder Familien - miteinander kontrahiert. Das Spektrum der Gaben ging weit über das hinaus, was ein moderner Mensch erwarten mag. Neben Gütern und Reichtümern, beweglicher und unbeweglicher Habe oder wirtschaftlich nutzbaren Objekten nannte Mauss Höflichkeiten und Festessen, Rituale, Militärdienste, Tänze und Märkte, Frauen und Kinder. Der Gabentausch in archaischen Gesellschaften betraf also nicht nur Recht und Ökonomie, sondern auch Religion, Ästhetik und Moral. Mauss bezeichnete deshalb den Gabenaustausch als ein „totales soziales Phänomen“ [3]. Totale soziale Phänomene seien also gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, ästhetische und auch morphologische Tatsachen. Sie hätten in einigen Fällen die Gesellschaft insgesamt in Gang gehalten, in anderen zumindest eine große Zahl von Institutionen bestimmt. Derartige Ganzheiten oder gesellschaftliche Systeme legte Mauss, der Soziologe, nachdrücklich den Historikern ans Herz: „Nichts ist unserer Meinung nach dringender und hoffnungsvoller, als ein solches Studium der totalen gesellschaftlichen Phänomene“ [4].
Die Wirkung, die Mauss erzielen wollte, beschränkte sich aber keineswegs auf die Rezeption seiner genialen sozialhistorischen Methode. Vielmehr lag ihm wohl vor allem an seinem Stoff, der nicht nur aus der Perspektive der Wissenschaft, sondern auch aus derjenigen des Lebens gewürdigt werden muß. Mauss glaubte nämlich, der von ihm entdeckte Gabenaustausch habe sich nicht auf die archaischen Kulturen beschränkt, er präge schlechthin al-le Gesellschaften, vor allem aber seine eigene. Moral und Ökonomie des Gebens, Nehmens und Wiedergebens seien, wie er schrieb, einer der Felsen, auf denen unsere Gesellschaften ruhten [5]. Im Frankreich der III. Republik sei „das Thema der Gabe, der Freiwilligkeit und des Zwangs der Gabe, der Großzügigkeit und des Interesses“ wiederaufgetaucht „wie ein beherrschendes, doch lange vergessenes Motiv“ [6]. Mauss bezog sich mit dieser Bemerkung zustimmend auf die Gesetzgebung zur Sozialversicherung von 1924, die er als „schon verwirklichten Staatssozialismus“ bezeichnete [7]. Daneben hob er die Errungenschaft der Familienbeihilfen hervor, „die unsere französischen Industriellen freiwillig und tatkräftig zugunsten kinderreicher Arbeiter entwickelt haben“ und die „eine spontane Antwort auf das Bedürfnis der Arbeitgeber“ sei, „die Individuen an sich zu binden“. Aus seiner Analyse zog er dezidierte moralische Schlüsse: „Wir brauchen mehr guten Willen, Großzügigkeit bei Dienstmietverträgen, bei der Wohnungsvermietung und beim Verkauf von lebenswichtigen Gütern. Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulation und Wucher einzuschränken (...). So kann und soll man zu archaischen und elementaren Prinzipien zurückkehren; man wird dann Handlungsmotive entdecken, die zahlreiche Gesellschaften und Klassen noch kennen: die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten oder öffentlichen Festes“ [8].
Wie man sieht, hat Marcel Mauss aus seinem Studium des Gabentausches und unter Bezug auf seine eigene Zeit eine soziale Utopie entwickelt. Nicht in diesem Sinne, doch im Hinblick auf seine wissenschaftlichen Prinzipien sind ihm bedeutende französische Historiker gefolgt. Mit seinem „Essai sur le don“ und an - deren Schriften wurde Mauss zu einem der Wegbereiter einer Geschichtsbewegung, die sich selbst als „Histoire Nouvelle“ bezeichnet hat [9]. Nach ihrem zentralen Publikationsorgan spricht man auch von der „Schule der Annales“. Von Anfang an haben diese Gelehrten jede sektorielle, auf bestimmte Fachdisziplinen beschränkte Geschichtsforschung abgelehnt und in der Art von Mauss ein Konzept der historischen Synthese verfochten. Im Unterschied zur älteren französischen Historie, der man eine einseitige Fixierung auf die Staaten- und Ereignisgeschichte vorwarf, wollten Gründer und Anhänger der Annales Sozialgeschichte im denkbar umfassenden Sinne betreiben. Nicht das große historische Individuum, sondern der Mensch in seinem gesellschaftlichen Umfeld rückte ins Zentrum des neuen Geschichtsbildes. Alle Wissenschaften, die zur Erkenntnis der Menschen und menschlichen Gruppen in ihrer Lebenswelt beitragen konnten, wurden zu historischen Disziplinen. Die neue Historie verstand und versteht sich als eine Wissenschaft ohne Grenzen [10], sie ist das interdisziplinäre Forschungsfeld schlechthin. Waren zunächst Soziologie und Geographie die bevorzugten Partner der französischen Historiker, so traten bald Psychologie, Linguistik, Demographie, Anthropologie, Archäologie und andere hinzu.
Um 1960 begann die zweite Generation der Annales-Schule, das Konzept der neuen Geschichtsbewegung als „histoire totale“ zu bezeichnen [11]. Die Wortprägung erinnert nicht zufällig an die „totalen sozialen Phänomene“, da man sich mit ihr ausdrücklich auf Marcel Mauss berufen hat [12]. In der Tradition von Mauss und anderen Vätern der Annales steht auch der bewußt hergestellte Bezug zwischen Wissenschaft und Leben, der die „totale“ oder „globale Geschichte“ kennzeichnet. Einer der prominentesten Vertreter der Annales brachte dies noch vor kurzem in einer autobiographischen Notiz klar zum Ausdruck: „Ich wollte Staatsbürger sein, um ein besserer Historiker sein zu können, und es war mir immer darum zu tun, ein Mensch meiner Zeit zu sein, um besser ein Mann der Vergangenheit sein zu können“ [13]. Am Anfang jeder Geschichtsforschung steht also ein Problem [14] oder eine Frage, das bzw. die die jeweilige Gegenwart des Historikers bestimmt; da aber die eigene Lebenswelt eine denkbar dichte Komplexität darstellt, lassen sich auch in der oder durch die Geschichte nur Lösungen finden, die in möglichst umfassender Weise Kontakte und Interferenzen der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche berücksichtigen. Man muß interdisziplinär arbeiten und forschen, weil sich im Leben selbst alles durchdringt. Daß Totalität als Postulat freilich niemals die vollständige Entwirrung oder Erfassung der historischen Beziehungsgeflechte meinen kann, ist selbstverständlich, weil jedwede Forschung als Fortschreiten ins Unendliche definiert ist [15].
In Deutschland, genauer gesagt: in Westdeutschland, wurden die Anregungen der „Nouvelle Histoire“ nur zögernd und auch nicht vollständig rezipiert. Das lag einerseits daran, daß sich die neue Geschichtsbewegung in Frankreich selbst erst nach dem Mai 1968 wirklich durchsetzen konnte und über die Grenzen des Landes hinaus populär wurde [16], andererseits aber an den Traditionen der deutschen Geschichtswissenschaft. Das Wort und das Konzept der „histoire totale“ wird noch in unserer Zeit nahezu einhellig verworfen, obwohl sich doch auch die besten Köpfe der deutschen Historie um großangelegte Synthesen bemühen. In der Ablehnung der „totalen Geschichte“ sind sich die Mittelalter- und die Neuzeithistoriker einig [17]. Man kann ein Handbuch der frühmittelalterlichen Geschichte Europas von 1991 nehmen oder auch eine „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ des 18. Jahrhunderts von 1987 [18], und findet in beiden gleichlautend die Zurückweisung der „Totalitätsutopie“; ja, schon der Anspruch auf die Erforschung der Totalität sei illegitim. Es ist das Verdienst von Otto Gerhard Oexle gezeigt zu haben, daß diese Urteile auf einem Mißverständnis der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen beruhten. Dieses Mißverständnis habe seine Wurzeln in den Wahrnehmungsweisen der deutschen Wissenschaftstradition, die überaus stark von Rankes Auffassung der Geschichte und der Geschichtsschreibung bestimmt sei [19]. Beeinflußt von Rankes Objektivitätsideal - die Historie müsse zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ ist -, habe man die „histoire totale“ fälschlich als Abbildung einer angenommenen Totalität verstanden. Dies wäre in der Tat eine Illusion, doch lägen der französischen Schule wissenschaftsgeschichtlich ganz andere Orientierungen zugrunde. Es sei nämlich die Gegenwart, die die Frage nach dem „Ganzen“ der Geschichte aufwerfe; und weil die Gegenwart in ihren unaufhörlichen Wandlungen dem Historiker ständig neue Fragen zuführe, sei seine Forschung auch ständig auf ein anderes Ganzes gerichtet [20]. Mit dieser Interpretation hat Oexle in der Tat den Kern der französischen Erkenntnislehre freigelegt, auch wenn man zugeben muß, daß einige Äußerungen der Annalesisten das beschriebene Mißverständnis begünstigt haben [21].
Oexle ist auch der einzige deutsche Mediävist, der bisher das Konzept des „totalen sozialen Phänomens“ von Marcel Mauss erprobt hat. Sein Thema war die alle Gesellschaften stark prägende Erscheinung der Memoria, also des Gedenkens Toter durch Lebende. Im Mittelalter gehörte die Memoria vorzüglich dem Bereich der Kirche, das heißt der Liturgie, an, doch durchdrang sie nahezu alle Bereiche des Lebens. Memorialquellen konnten Inschriften, Kunstwerke, Geschichtsschreibung, Testamente, Geschäftsschriftgut usw. sein. Memoria ist, wie Oexle formuliert hat, „eine Denkform und (eine) Form des sozialen Handelns von Menschen in Gruppen, die in umfassender Weise profane und religiöse Gegebenheiten verknüpft“; sie ist „eine Form des Denkens und Handelns, in der politische und rechtliche, wirtschaftliche, gesellschaftliche und künstlerische Gegebenheiten und Intentionen in einer umfassenden religiösen Sinngebung zusammengebunden sind“ [22]. Diese Charakteristik entspricht genau den Kriterien, die Mauss vor fast siebzig Jahren für die „totalen sozialen Phänomene“ genannt hatte.
In meiner heutigen Vorlesung möchte ich zeigen, daß auch die Stiftungen des Mittelalters bzw. der Vormoderne totale soziale Tatsachen gewesen sind. Dabei wird sich erweisen, daß die Stiftungen einerseits ein Sonderfall des Gabentausches waren und andererseits von der Memoria geprägt worden sind. Nicht nur methodisch, auch sachlich werden sich meine Darlegungen also den Arbeiten von Mauss und Oexle anfügen. Freilich bleiben die Stiftungen trotzdem noch etwas anderes. Dies werde ich abschließend erörtern, wenn es darum geht, ob und inwiefern die Stiftungen auch Thema einer totalen Geschichte sind oder sein können.
Was „Stiftung“ in Vergangenheit und Gegenwart sei, entzieht sich einer einfachen Definition [23]. Das Phänomen freilich läßt sich in vielen Hochkulturen verifizieren: im Abendland und in den islamischen Staaten [24], aber auch im Alten Ägypten [25], in der vorchristlichen Antike Roms und Griechenlands [26], aber auch im Alten Ägypten [27]. Andererseits haben sich die Auffassungsweisen der Stiftung in Neuzeit und Moderne auseinanderentwickelt, so daß Franzosen, Angelsachsen und Deutsche verschiedene Zugänge zur gleichen Erscheinung gefunden haben [28]. In Deutschland dominiert ein juristischer Ansatz, seitdem die Rechtswissenschaftler im 19. Jahrhundert um den Begriff der Stiftung gerungen haben. Auch die historische Forschung steht im Banne dieser Tradition, die es freilich kritisch zu rezipieren gilt [29]. Unzweifelhaft ist die Stiftung ein Rechtsinstitut. Sie wird dadurch geschaffen, daß ein Stifter die Erträge seines Vermögens einem dauernden Zweck widmet [30]. Das Kapital der Stiftung selbst muß also erhalten bleiben, während die Zinsen gemäß dem Stifterwillen konsumiert werden. Von der einfachen Schenkung unterscheidet sich die Stiftung dadurch, daß die Gabe nicht durch einmaligen Akt den Besitzer wechselt, sondern ständig wiederholt wird. Weil die Stiftung auf eine unbestimmte Zukunft hin angelegt ist - eigentlich sogar auf Ewigkeit -, bedarf sie einer eigenen Verwaltung. Man spricht von den „Stiftungsorganen“, die das Vermögen zu erhalten und zu mehren suchen und im Namen des Stifters regelmäßig die Empfänger der Wohltaten versorgen. Schon diese kurze Beschreibung deutet an, daß die Stiftung mit den von Mauss genannten Kriterien des totalen sozialen Phänomens erfaßt werden kann. Stiftung ist nämlich nicht nur eine Einrichtung des Rechts, sondern - wie sich zeigte - auch eine der Wirtschaft. Sie entspricht überdies dem, was Mauss mit einem morphologischen Phänomen meinte [31], denn die Stiftung kann nur funktionieren, wenn sie sich auf ein hochentwickeltes Rechts- und Wirtschaftssystem im Ganzen bezieht, das ihren Bestand absichert. Weitere Aspekte des Stiftungswesens erschließen sich durch Analyse der Stiftungszwecke. Im Mittelalter dienten die Stiftungen hauptsächlich dem Ausbau des Kirchenwesens bzw. der Vermehrung des Gottesdienstes, der Aufhebung oder Entschärfung sozialer Notlagen und der Entfaltung von Kunst und Wissenschaft. Das alle Stiftungstypen über wölbende Motiv war freilich eine religiöse Sinngebung, die nirgendwo fehlte.
Was zunächst die Kirchen betrifft, so kann man behaupten, daß ohne die Stiftungstätigkeit der Laien schon die Mission in Mitteleuropa kaum erfolgreich gewesen wäre [32]. Es waren nämlich vermögende Grundherren, die auf ihrem Boden Kirchen errichteten, von denen aus die Landbevölkerung christianisiert wurde. Die Bischöfe waren auf derartige Partner angewiesen aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch, weil sie in Städten residierten und in mediterranantiker Tradition von städtischer Mentalität geprägt waren. Kirchenstiftungen blieben nicht auf die Frühzeit beschränkt, sondern wurden das ganze Mittelalter hindurch vollzogen [33]. Dabei ging es nicht immer um die Errichtung ganzer Gotteshäuser, sondern auch um Kapellen oder Altäre, für die besondere Klerikerstellen mit Pfründen geschaffen wurden. Die Stifter waren keineswegs bloß wohlhabende Adlige oder Bürger, vielmehr haben sich in gleicher Weise minder begüterte Menschen zusammengetan, um Stiftungen auf genossenschaftlicher Basis zu errichten. So gab es in den Städten Altäre von Zünften, Gilden und Bruderschaften, und ebenso haben im vorreformatorischen Jahrhundert die Dorfbewohner öfter gemeinsam eine Priesterpfründe oder einen Prediger finanziert [34]. Neben den gutsherrlichen Oratorien, den Kapellen und Pfarrkirchen standen die Klöster, gestiftet für eine größere Anzahl von Mönchen oder Nonnen. Hervorgehoben seien die Stiftskirchen, bei denen das Wort Stiftung sogar namengebend wurde [35], bei diesen Stiften lebten Kanoniker oder Kanonissen in quasi-monastischer Weise zusammen. Stiftskichen wurden, mindestens seit karolingischer Zeit, ständig gegründet; im Reich zählten sie nach vielen Hunderten. Oft erreichten sie ein bemerkenswertes Alter; so besteht noch heute das Kollegiatstift zur Alten Kapelle in Regensburg, das König Ludwig der Deutsche vor über 1100 Jahren eingerichtet hat [36]. Auch in der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln hat es ein derartiges Kollegiatstift gegeben; es wurde Mitte des 15. Jahrhunderts durch Kurfürst Friedrich II. an der Kirche des Hohenzollern-Schlosses geschaffen [37]. Dieses sogenannte Domstift der Erasmuskapelle mit insgesamt acht Kanonikern gilt als vornehmste kirchliche Institution unserer Stadt im Mittelalter.
Der zweite Typ der Stiftungen waren Einrichtungen sozialer Fürsorge. Vor allem die Spitäler in den hoch- und spätmittelalterlichen Städten sind zu nennen, die eine steigende Anzahl von Armen und Bedürftigen aufnahmen [38]. Spitäler dienten aber auch als Herbergen für Reisende oder - in dem uns geläufigen Sinne - als Krankenhäuser. Vorläufer der mittelalterlichen Fürsorgestationen waren die Fremdenhäuser, Armenhäuser, Kranken-, Waisen- und Findelhäuser sowie die Altenheime der christlichen Antike; diese sind im Recht des Kaisers Justinian von 534 nachweisbar und werden nach dem Motiv der frommen Gesinnung bei der Stiftung als „piae causae“ bezeichnet [39].
Obschon die Spitäler des Mittelalters vielfach von Bürgern, also von Laien, gegründet und getragen wurden, blieben sie in die kirchliche und religiöse Sphäre eingebunden. Stets bildeten nämlich eine Kapelle, Meßfeiern und Gebetszeiten das räumlich-zeitliche Zentrum im Leben der Spitaliten. In Berlin legt davon noch heute eine Backsteinkapelle an der Spandauer Straße Zeugnis ab, die zu dem Ende des 13. Jahrhunderts gestifteten Heiliggeistspital gehört hat [40].
Kirchen und Spitäler waren Bauwerke, die - aus Stein errichtet - eine besondere Affinität zur Stiftung aufwiesen, welche eben auf Dauer angelegt war. Sie waren aber auch Architektur, also Kunstwerke, oder konnten das doch wenigstens sein. Ein Stifter im Mittelalter wurde deshalb leicht zum Mäzen [41]. Vielleicht leuchtet das auf Anhieb eher für die Kirchen ein, die wir noch heute vielerorts bewundern können; man braucht aber bloß nach Lübeck zu reisen und das dortige Spital betrachten, um zu erfahren, daß die gotische Bauweise auch auf dem Gebiet der Spitäler zu Meisterleistungen fähig war. Und selbst die scheinbar so karg und zweckmäßig angelegte Fuggerei in Augsburg aus dem 16. Jahrhundert, eine Wohnsiedlung für verarmte Familien, konnte unlängst noch als Kunstwerk gewürdigt werden [42]. Architektur war eine Ordnungsmacht für andere Künste [43], und man kann sagen, daß „nahezu alle im Mittelalter entstandene Kunst (...) aus religiösen Motiven gestiftet“ wurde [44]. Tafelmalerei und Glasfenster [45], Goldschmiedearbeiten und Skulpturen, liturgische Gewänder und Handschriften verdankten ihre Entstehung dem Stifterwillen, und nicht selten wurden Stifterbild, Stifterwappen und Stiftername auf diesen Gegenständen verewigt..
Schließlich haben Stiftungen Bildung und Wissenschaft gefördert. Das gilt schon für die Schulen, bei denen die Lehrer durch den Genuß einer Pfründe entlohnt werden konnten [46], besonders aber für die Universitäten. Alle deutschen Universitäten des Mittelalters waren Stiftungsuniversitäten, sie wurden also kaum aus dem Staatshaushalt finanziert [47]. Diese Tatsache wird freilich selbst von modernen Universitätshistorikern verkannt; so wurde kürzlich von der erst 1914 gegründeten Universität Frankfurt am Main fälschlich behauptet, sie sei die einzige Stiftungsuniversität, „die es in der deutschen Geschichte gegeben hat“ [48]. An mittelalterlichen Generalstudien bestritten neben den Professoren die bedürftigen Studenten ihren Lebensunterhalt, ihr Stipendium, aus Stiftungsgütern [49]. Wie die anderen Stiftungsinstitutionen unterlagen die Universitäten von Anfang an einer religiösen Bestimmung. Die Gründungsurkunden verraten, daß die hohen Schulen dem Lobe Gottes, der Verbreitung des Glaubens und der Christenheit zum Trost dienen sollten, und dementsprechend war der Lebensrhythmus der Doktoren, Magister und Scholaren tiefgreifend kirchlich geprägt.
Stiftungen des Mittelalters waren, wie sich gezeigt hat, Phänomene, in denen sich Religiöses, Rechtliches und Ökonomisches durchdrang und gegenseitig bedingte, und in den je konkreten Ausprägungen kamen die Motive der Caritas oder des Mäzenatentums hinzu. Was in unserer Aufzählung noch fehlt, ist der Begriff des Sozialen. Für Mauss stand das Soziale im Zentrum der von ihm beschriebenen totalen Phänomene, und tatsächlich erweist sich auch an den Stiftungen, daß es ein sozialer Mechanismus war, der sie in Gang gesetzt und in Gang gehalten hat. Einem solchen Verständnis der Stiftung hat die Forschung allerdings erst in den letzten Jahren den Weg gewiesen. Maßgeblich wurde dabei die Erkenntnis, daß Stiftungen ursprünglich immer zugleich Totenstiftungen waren [50]. Sie dienten also zur Versorgung der Stiftergräber oder zur Wahrung der Stiftermemoria. Stiftungen sind dadurch ausgezeichnet, daß sie in scheinbar altruistischer Weise einem gesellschaftlichen oder kulturellen Mangel abhelfen wollen, daneben aber dem Fortleben des Stifters und seines Namens gewidmet sind. Schon in der vorchristlichen Antike ist der Zusammenhang deutlich faßbar. So hat der griechische Philosoph Epikur, der im Jahr 270 vor unserer Zeitrechnung starb, durch eine testamentarisch festgelegte Stiftung den Bestand seiner Schule gesichert [51], Epikur verpflichtete gleichzeitig seine Schüler zu einem aufwendigen Erinnerungskult. Aus den Einkünften der Stiftung sollten nämlich seinen Eltern, seinem Bru-der und ihm selbst regelmäßige Totenopfer dargebracht werden, und an jedem Zwanzigsten eines Monats waren die Schüler zu einem Totenmahl im Gedenken an Epikur verpflichtet. Tatsächlich scheinen die Vorschriften des Vermächtnisses rund 500 Jahre beachtet worden zu sein; schon Plutarch hat nach eigenem Zeugnis an den Totenmählern der Epikuräer teilgenommen.
Im Mittelalter und unter christlichen Vorzeichen konnte es selbstverständlich derartige Totenkultstiftungen nicht mehr geben; an ihre Stelle traten, wie Karl Schmid formuliert hat, Stiftungen für das Seelenheil [52]. Die Stiftungen sollten dazu verhelfen, die Seele beim Jüngsten Gericht zu retten. Adressat der Seelenheilstiftungen war eigentlich Gott selber, der für die gute Tat das ewige Leben geben konnte [53]. Im übrigen erhoffte der Stifter die dauernde Fürbitte der von ihm geförderten Menschen. Gebet und Memoria waren die ständige Gegengabe für die Gabe des Stifters [54]. . Zu diesen Leistungen waren die Priester, Altaristen, Mönche und Stiftsherren ebenso verpflichtet, wie die Spitalinsassen, Professoren und Studenten. Die Künstler bewirkten die Stiftermemoria durch Inschrift oder Bild. Die Stiftung, die einen wirklichen Gabentausch im Sinne von Mauss begründete, rief wegen ihres dauernden Bestandes eine ständige Interaktion zwischen Lebenden und Toten hervor. Der tote Stifter als Spender der Wohltaten und als Nutznießer der ihm gewidmeten Gebete wurde als reale Person aufgefaßt. Sinnfällig wurde das beispielsweise dann, wenn bei Totenmählern dem Kommemorierten selbst Speisen geopfert wurden [55]. Durch die Stiftung gewann der Verstorbene wieder Gegenwart unter den Lebenden [56], nach Auffassung der Zeit war er es selbst, der die Erträge seiner Stiftung als fromme Gaben verteilte. Die Stiftungen beruhten auf einer Denkform, die in der europäischen Geschichte erst während der Zeit Napoleons und Goethes aufgegeben wurde: auf der Vorstellung nämlich, daß Lebende und Tote gemeinsam die Gesellschaft bilden..
Wenn das Konzept der totalen sozialen Phänomene durch Marcel Mauss irgendeinen Mangel aufweist, dann wohl den, daß in ihm das Politische eine eher untergeordnete Rolle spielte [57]. Diese Akzentsetzung kam seinerzeit den Intentionen der französischen Historiker entgegen. Wenn wir aber heute erörtern wollen, ob die Stiftungen das Zentrum im Bezugssystem einer totalen Geschichte sein könnten, dürfen wir diesen wichtigen Aspekt nicht beiseitelassen. Als Beispiel für den Stellenwert der Politik im Stiftungswesen soll im folgenden das Wirken des bayerischen Herzogs Ludwigs des Gebarteten dienen. Die Stiftungen dieses Wittelsbachers zeigen im übrigen ein so komplexes Bedingungsgefüge, daß sie nahezu den Idealtyp eines totalen sozialen Phänomens repräsentieren.
Der Herzog hat seine Regierung im Jahr 1416 angetreten [58], Ludwig der Bärtige war aber keineswegs der Gesamtherrscher in Bayern, sondern nur einer von vier Wittelsbachern, die den Herzogstitel führten. Von seinem Vater hatte Ludwig ein äußerst zersplittertes Territorium geerbt, das in Ingolstadt seine Hauptstadt hatte. Trotzdem gelang es Ludwig und seinen Nachfolgern, im Teilherzogtum Bayern-Ingolstadt während des 15. Jahrhunderts einen modernen Territorialstaat zu errichten, der den anderen wittelsbachischen Herrschaften kaum nachstand [59] Ludwig selbst konnte sich intensive Erfahrungen aus Frankreich zunutze machen, da er als Schwager Karls VI. jahrzehntelang am Pariser Königshof gelebt hatte [60]. Beim Aufbau eines rational organisierten Staatsgebildes ließ er sich durch zahlreiche Männer unterstützen, die ihm schon in Paris gedient hatten; diese besetzten in Ingolstadt die einflußreichsten Hofämter und die wichtigsten Stellungen in Rat und Kanzlei. Der Zentralismus des Herzogs ging selbstverständlich zu Lasten anderer Herrschaftsträger, und auch die politischen Freiheiten der Bürgerschaften schränkte Ludwig ein. Dafür förderte er die Wirtschaftskraft und bauliche Entwicklung seiner Residenz. Das erste große Projekt wurde der Neubau einer herzoglichen Feste; dieses „Neue Schloß“ vereinigte die Funktionen des Wehrbaus, des Wohn- und des Regierungssitzes in sich [61]. Als Pendant zu dem herrschaftlichen Bauwerk entstand unter Ludwig auf der anderen Seite der Stadt die Liebfrauenkirche [62]. Schon Ludwigs Vater hatte den Ingolstädtern eine Marienkirche als zweite Pfarrkirche gestiftet, die jetzt sein Sohn als großartige Hallenkirche aufführen ließ [63]. Von Beginn an hat zwischen Kirche und Hof eine enge Verbindung bestanden; denn die Herzöge hatten sich das Präsentationsrecht vorbehalten und die Pfründe des Pfarrherrn an ihre Kanzleischreiber oder Räte vergeben. Der erste Frauenpfarrer war ein gelehrter Jurist, der zweite ein Artistenmagister, Theologe und Mediziner, der gar in Paris als Universitätsprofessor gelehrt hatte und nun Ludwig dem Bärtigen als Leibarzt diente [64]. Mit dem Jahr 1429 traten aber die Beziehungen Herzogs Ludwigs zur Frauenkirche in ein ganz neues Stadium; der Wittelsbacher bestimmte nämlich die zweite Ingolstädter Pfarrkirche zur Grablege für sich und seine Familie [65] 1430 ließ er schon den Leichnam seines Vaters und das Herz seiner ersten Gemahlin von anderswoher in die Gruft der Frauenkirche überführen; und wohl im selben Jahr hat ein Ulmer Künstler nach Anweisungen Ludwigs das Modell für dessen eigenes Grabmal geschaffen [66]. In der darauffolgenden Zeit wurde die ganze Frauenkirche im Hinblick auf die Grab- und Gedächtnisstiftung sachlich und personell überaus reich ausgestattet [67]. Nicht ohne Grund hat man von der Stiftung gesprochen als einem „Gesamtkunstwerk von höchstem thematischen und künstlerischen Anspruch“ [68]. Zur Ausstattung der Kirche gehörten neben silbernen Altarbildern und einem Figurenschmuck aus Stein, neben liturgischen Geräten, Ornaten und Büchern auch ein Glasfensterzyklus, auf dem die Ingolstädter Linie der Wittelsbacher dargestellt war. Ein Schatz von Reliquien und Kleinodien, z.T. aus Frankreich, wurde dem Gotteshaus übereignet. Besonderen Wert legte Ludwig auf die polyphone und instrumentale Kirchenmusik. So stellte er erhebliche Mittel für einen Organisten bereit. Die Mitte des Stiftungswerkes bildeten aber die von Ludwig kreierten Personengemeinschaften, die das Gebetsgedenken vollziehen sollten. Eine Gruppe von sechs Kaplänen sollte zusammen mit dem Pfarrer täglich eine Reihe von Gedenkmessen mit unterschiedlicher Feierlichkeit zelebrieren [69]. An diesen beteiligt waren der Orgelspieler und verschiedene Sangmeister mit ihren Chören, die sich aus Schülern und Psalteristen zusammensetzten. Die aus 16 Personen bestehende Gruppe der Psalteristen hatte außerdem die Aufgabe, in Vierergruppen wechselnd ohne Unterlaß den Psalter zu beten [70]. Auch die Armen erhielten ihren Platz in der Commemoratio. Der Herzog stiftete dazu ein neues Spital neben der Liebfrauenkirche, in dem 15 Pfründner wohnen sollten [71]. Der Tagesablauf der Spitaliten war ausschließlich auf die Gebetsleistungen abgestellt. Sie hatten an den Gottesdiensten in der Kirche und in der Kapelle ihres eigenen Hauses teilzunehmen, bei den sieben Tagzeiten insgesamt 206 Paternoster und Ave Maria zu sprechen und auch bei den Mahlzeiten des Stifters zu gedenken. Grabsorge und Gebetsgedächtnis in der Marienkirche sollten allerdings nicht auf Ludwig den Bärtigen selbst beschränkt bleiben. Vielmehr schloß der Herzog in seine Memorialvorschriften immer wieder seine Angehörigen mit ein. Er griff dabei bis zu seinem wittelsbachischen Spitzenahn, Kaiser Ludwig dem Bayern, zurück und nannte dazu seine unmittelbaren Vorfahren und Angehörigen [72]. Schließlich wollte er die Heilswirkung der Gebete noch allen Dienern und Untertanen sowie allen Gläubigen schlechthin zuwenden [73]. In der Gedächtnisstiftung hat sich, wie man sagen kann, der werdende Territorialstaat in seinem Fürstenhaus sakral selbst dargestellt [74]. Wohl am eindrucksvollsten zeigt sich das Zusammenspiel von Stiftung, Gedenken und Politik an dem sogenannten Fürstenjahrtag [75]. Die Einrichtung ging in Bayern bereits auf Kaiser Ludwig, also auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts, zurück. Danach waren die Weltgeistlichen sämtlicher Dekaneibezirke verpflichtet, alljährlich am St. BlasiusTag zu einem zentralen Ort des Herzogtums zu kommen, um an einem zweitägigen Anniversar für des Kaisers Vorfahren teilzunehmen. Als Gegenleistung hatte Ludwig der Bayer der Geistlichkeit die Testierfreiheit gewährt. Ludwig der Bärtige übertrug nun den Jahrtag an die Ingolstädter Liebfrauenkirche. Jedes Jahr am 4. Sonntag nach Pfingsten sollten rund 160 bepfründete Weltpriester zum Totengedenken nach Ingolstadt kommen [76]. Wenn man weiß, welche Schlüsselrolle die Pfarrherrn der Zeit bei der Verbreitung von Nachrichten spielten, kann man ermessen, daß der Fürstenjahrtag zur Stabilisierung politischer Herrschaft taugte [77].
Der großangelegte Stiftungsplan Ludwigs des Bärtigen [78] wurde allerdings nur in bescheidenem Umfang realisiert. Der Herzog hatte sich gegen Ende seines Lebens mit seinem einzigen legitimen Sohn überworfen, der dann auch noch vor ihm starb. Ludwig selbst verschied im Exil (1447) und wurde niemals, wie es sein Wunsch gewesen war, nach Ingolstadt überführt. Der Herzogsgruft fehlte also ihr Zentrum, und das Grabmonument blieb unausgeführt. Ingolstadt fiel an eine andere Wittelsbacher Linie, die an Ludwigs Werk kaum interessiert sein konnte
[79]. Ohne Rückhalt an der politischen Herrschaft konnte die Stiftung nicht gedeihen; immerhin war soviel Kapital angehäuft, daß dafür eine neue Verwendung gefunden werden mußte. So entstand, nur ein Vierteljahrhundert nach Herzog Ludwigs Tod, die Universität Ingolstadt, die Vorgängerin der gegenwärtig größten deutschen Universität in München [80].
Stiftungen wie diejenige des Herzogs von Ingolstadt führen wie von selbst auf die Frage, inwiefern sie als totale soziale Phänomene Knotenpunkte oder Leitmotive einer totalen Geschichte sein könnten. Zweifellos haben sie eine große Zahl von Menschen und Institutionen bestimmt, aber konnten sie auch eine Gesellschaft insgesamt in Gang halten, wie dies Mauss bei den totalen Tatsachen für möglich hielt? Der Forschungsstand läßt nicht zu, darauf heute eine klare Antwort zu geben. Daß immerhin die Frage so gestellt werden kann, rechtfertigt die Kritik, in die das Stiftungswesen in der Reformationszeit und besonders während der Aufklärung geraten ist [81]. Ein ähnliches Argument liefern die islamischen Länder. Hier soll bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Viertel bis über die Hälfte des Volksvermögens in Stiftungen angelegt gewesen sein; Modernisten wie Atatürk oder die Pahlewis sahen sich deshalb zu Gegenmaßnahmen veranlaßt [82]. Und wenn es richtig ist, daß die Stiftungen in der Vormoderne die Gesellschaft der Lebenden und Toten zu organisieren halfen, fällt es schwer, ihnen einen geringeren Stellenwert zuzuschreiben, als anderen sozialen Ordnungsprinzipien, als Herrschaft beispielsweise oder als Genossenschaft [83]. Aber zweifellos wissen wir noch sehr wenige Einzelheiten darüber, welche Bedeutung den Stiftungen im gesamtgesellschaftlichen Gefüge zugekommen ist. Am weitesten konnte in dieser Hinsicht bisher wohl die stadtgeschichtliche Forschung vorstoßen. In einer gesellschaftsgeschichtlichen Strukturanalyse Augsburgs im Spätmittelalter wurde z.B. gezeigt, daß sich das alle Lebensbereiche prägendeVerhältnis zwischen Bürgerschaft und Kirche signifikant am Stiftungsverhalten ablesen läßt [84]. Je nach sozialem Rang und nach der Gruppenzugehörigkeit wählte man demnach für seine Stiftungen die Kirchen und Klöster aus, an denen man im Gegenzug seinen nachgeborenen Söhnen und Töchtern Unterkunft und Pfründe zu sichern verstand. Durch eine andere Studie wurde demonstriert, wie sich die Stiftungen im Rahmen zweier fränkischer Kleinstädte durch die Jahrhunderte behaupteten bzw. in ihrer Erscheinungsweise wandelten [85]. Weitere Untersuchungen dieser Art, bezogen freilich auch auf Adelsherrschaften und Territorien, sind künftig notwendig - und erfolgversprechend. Ein anderer Ansatz, der mit Sicht auf die totale Geschichte zu verfolgen sein wird, betrifft das Problem der Periodisierung. Bisher wissen wir zwar, daß das Stiftungswesen in der Geschichte immer wieder aufgekommen ist, daß es aber allem Anschein nach keine kulturelle Konstante dargestellt hat. In Griechenland vor dem Hellenismus, in Rom vor ca. 100 n.Chr. [86]. und in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters hat es offenbar gefehlt oder nur in Kümmerformen existiert [87]. Befriedigende Erklärungen für derartige Zeitenwechsel liegen bis jetzt nicht vor [88], zumal eine moderne historische Gesamtdarstellung des Stiftungswesens fehlt [89]. In der neueren Geschichte scheint eine Deutung leichter zu sein, weiß man doch, daß Stiftungen in autoritären Staaten nicht gedeihen können [90]. Wo der Staat die gesellschaftlichen Bedürfnisse definiert, haben die Stifter keine Entfaltungschance. Bekanntlich hat deshalb auch die DDR die Stiftungen nicht gefördert [91], im Zivilgesetzbuch von 1975 kamen sie gar nicht mehr vor [92].
Das Postulat der totalen Geschichte richtet sich ebenso wie auf die Vergangenheit auf die Gegenwart. Was können wir also über uns und unsere Zeit erfahren, wenn wir die Stiftungen des MitMittelalters studieren ? Es ist klar, daß in den Versuch meiner Antwort auf diese Frage eigene Beweggründe zu dem Forschungsthema eingehen. Zunächst scheint mir evident zu sein, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der der Staat nur einen Bruchteil dessen erfüllen kann, was erforderlich wäre. Vielleicht niemals zuvor seit 45 Jahren war private Initiative zur Lösung öffentlicher Aufgaben mehr geboten als jetzt, vielleicht gab es aber dafür auch nie größere Handlungsräume. Selbstverständlich können und sollen wir nicht alle Stifter werden, aber die Sensibilität für die Not der anderen und für das Neue, dem eine Chance gegeben werden muß, können wir aus der Geschichte lernen. Die Geschichte der Stiftungen übertreibt freilich die Motive der Fürsorge und des Mäzenatentums nicht; sie zeigt im Gegenteil, wieviel Selbstsucht den edlen Absichten beigemischt ist, sie ist deshalb ehrlich und menschlich. Schließlich ein Letztes. Der Stifter und der Historiker sind aufs engste miteinander verwandt. Für beide steht im Zentrum ihres Denkens und Handelns das Thema der Dauer. Der Historiker will die Vergangenheit vor dem Vergessen bewahren und kann damit leidlich erfolgreich werden; als Geschichtsschreiber wollte er bis vor kurzem auch in seinem Werk überleben. Diese Illusion hat uns Max Weber genommen. Geschichtswissenschaft ist - um mit Wolfgang Hardtwig zu sprechen - keine Geschichtsreligion mehr, sondern sie ist Forschung geworden [93] ; jede Erkenntnis bezweckt ihre eigene Revision. Ganz ähnlich steht es mit dem Stifter. All seine Energie, Dauerndes zu schaffen, bleibt letztlich vergeblich, wenn es auch nicht so schnell gehen muß, wie bei Herzog Ludwig von Ingolstadt. Das Studium der Stiftungen kann deshalb dazu verhelfen, das Maß zu finden, das dem Menschen in seiner Geschichte gegeben ist.